Von drauß‘ vom Walde . . .

Aus “Westfälische Nachrichten” vom 07.12.2013

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Freckenhorst – Am Nikolausabend in Freckenhorst begleitete WN-Redakteurin Joke Brocker als Knecht Ruprecht den Nikolaus.

Von Joke Brocker

Lange Vorreden sind Lottas Sache nicht. Der Nikolaus hat im heimeligen Esszimmer kaum Platz genommen, da kommt die Dreijährige, die erwartungsvoll auf einer Bank herumrutscht, gleich zur Sache: „Wann gibt‘s die Süßigkeiten?“ Na, die traut sich was. „Damals hätte es das nicht gegeben“, blicken der altgediente Nikolaus und sein Aushilfs-Ruprecht gefühlte 40 oder 50 Jahre zurück, als sie mit ihrem versierten „Kutscher“ zum nächsten Haus eilen. Damals fürchteten die Kinder den Nikolaus und dessen finsteren Begleiter noch und lernten für den himmlischen Besuch Gedichte auswendig.

„Von drauß‘ vom Walde komm ich her; ich muss euch sagen, es weihnachtet sehr. Allüberall auf den Tannenspitzen sah ich goldene Lichtlein sitzen; und droben aus dem Himmelstor sah mit großen Augen das Christkind hervor.“

Von wegen goldene Lichtlein! Es blitzt, donnert und stürmt an diesem Abend, der so gar nicht zu Theodor Storms Gedicht passen will. Dass der Nikolaus und sein Begleiter bei diesem Wetter auf die Kutsche verzichtet haben und zu Fuß anreisen, leuchtet auch den kleinen Tamilinnen ein, die den Gast, von dem sie in der Schule schon so viel gehört haben, sehnsüchtig erwarten. „Der alte Nikolaus ist schon lange tot?“, vergewissert sich eines der Mädchen und schaut den heiligen Mann aus großen Kulleraugen an, um dann zu erzählen, dass es gerne in die Schule geht, aber immer noch keine Freunde gefunden hat. Der große Bruder macht noch rasch ein Gruppenbild mit Nikolaus und Ruprecht, und schon geht es über die menschenleere Warendorfer Straße weiter zum nächsten Haus.

Die Tür bleibt verschlossen. Kein Einzelfall an diesem Abend. Eine Mutter, deren Kinder durch die Wohnung tollen, gibt „Kutscher“ Wolfgang Nilles unmissverständlich zu verstehen, dass der Nikolaus-Besuch schon im Vorjahr unerwünscht gewesen und auch diesmal nicht willkommen sei. Ruprecht und Nikolaus, der unter vier Augen auf den Namen „Theo“ hört und Patriarch im Konsistorium des Nikolaus-Collegium ist, stehen derweil frierend unter einem Abdach, das Schutz vor dem anhaltenden Regen bietet. Theo, pardon, der Nikolaus sorgt sich um sein Gewand: „Der Regen läuft mir schon in den Kragen.“ In 40 Jahren habe er einen derart nassen Nikolausabend noch nicht erlebt.

Und damit sind ausdrücklich nicht die schon legendären feucht-fröhlichen Nikolausabende früherer Zeiten gemeint, in denen sich Nikolaus und Ruprecht „die Kante“ gaben und anderntags nicht mehr wussten, wie sie nach Hause gekommen waren.

„Knecht Ruprecht . . . alter Gesell, hebe die Beine und spute dich schnell“:

Tatsächlich, so ein Ruprecht hat am Nikolaus-Abend vor allem eine tragende Rolle. Den Sack mit den Tüten für die Kinder, die ihm der der fleißige Kutscher zuteilt, muss er schleppen. Er hilft dem Nikolaus beim Einsteigen in die motorisierte „Kutsche“, ordnet immer wieder das vom Winde verwehte Gewand seines Vorgesetzten, hält den Bischofsstab, wenn der Nikolaus in einer Sturmböe die kostbare Mitra sichern muss. Schließlich darf er soufflieren, wenn der Nikolaus durch die beschlagenen Brillengläser nicht so ganz einwandfrei in seinem großen Buch lesen kann, welchen Kindergarten die kleine Zoë besucht. Und dann ist da noch die Rute, die am Tag nach der Wintersynode im Kreise der Ruprechte gebunden worden ist – und offenbar furchteinflößende Wirkung hat. Man weiß schließlich:

„Die Rute, die ist hier; doch für die Kinder nur, die schlechten, die trifft sie auf den Teil, den rechten . . .“

Oder erschreckt die Kinder das schwarze Gesicht? Mit Bodypainting-Farbe hat Sandra Wickinghoff fast alle Ruprechte so bemalt, dass man sie glatt für Verwandte von Schmusesänger Seal halten könnte. Argwöhnisch beäugt jedenfalls ein türkisches Zwillingspärchen den schwarzen Mann und die Rute aus Birkenzweigen. Am Ende lassen sich die Zweijährigen dann doch, neben dem Nikolaus sitzend, von ihrer Mama fotografieren – und winken selbst dem Ruprecht nach.

Auch der kleine Nico, der beim Anblick der Besucher in Tränen ausbricht, steht schließlich doch für ein Gruppenbild mit Sören, Greta, Carla, Sophia und Nikolaus zur Verfügung. Selbstverständlich kommt die Rute an diesem Abend nicht zum Einsatz. Denn die Frage

„Nun sprecht, wie ich‘s hier drinnen find! Sind‘s gute Kind sind‘s böse Kind?“

lässt sich in Freckenhorst ganz eindeutig beantworten: In der Stiftsstadt wohnen selbstverständlich nur brave Kinder, wie Sören, der Opa und Papa immer hilft, wenn diese draußen arbeiten. Für den Nikolaus hat er sogar ein Gedicht auswendig gelernt, das gewiss auch Theodor Storm entzückt hätte:

„Eine winzig kleine Laus

saß einst im Bart des Nikolaus. Sie zwickt ihn hier, sie zwickt ihn dort, will er sie packen, hüpft sie fort. Da schimpft der alte Nikolaus mit dieser frechen kleinen Laus! Er geht ins Bad, macht schnipp und schnapp, die Laus erschrickt, der Bart ist ab!“

Sörens Schwester Greta hat für Nikolaus und Ruprecht Plätzchen gebacken. „Ruprecht, das bist du“, bemerkt der Nikolaus mit Blick auf einen gebackenen Schneemann. Komisch, die Brillengläser sind doch gar nicht mehr beschlagen.

Aber Ruprecht ist ein höfliches Wesen – und schweigt. Tialda Lynn, die so gerne badet und duscht, aber beim Essen leider zu viel quasselt, wie der Nikolaus festgestellt hat, und der hilfsbereite Luca, der so gerne zur Schule geht, dafür aber sein Zimmer weniger gerne aufräumt, haben für den hohen Besuch gemalt. Bis Brandon-Lee seinen echt coolen Jet herausrückt, den er eigens für den Nikolaus gestaltet hat, werden der Heilige Mann und sein Begleiter auf eine Geduldsprobe gestellt. Denn eigentlich kommen die beiden ungelegen. Brandon wollte jetzt fernsehen. Demonstrativ lässt er sich, nachdem er aus seinem Versteck aufgetaucht ist, aufs Sofa plumpsen und verschanzt sich erst einmal hinter Decken und Kissen. Ein Verhalten, das nicht nur die vor ihm sitzende Katze gehörig irritiert. Einen erfahrenen Nikolaus kann offenbar nichts erschüttern. Mit viel Einfühlungsvermögen gelingt es dem kinderlieben Mann, den Sechsjährigen, der seiner Mama so viel hilft und sich liebevoll um das zehn Wochen alte Schwesterchen kümmert, aus der Reserve – und den Kissenbergen – zu locken.

Ruprechtmütze ab vor diesem Mann. Dieser Nikolaus ist ein echter Kinderversteher!

Nach getaner Arbeit in ihrer Diözese, dem Stadtteil Kühl II, unterstützen Nikolaus, Ruprecht und ihr „Kutscher“ noch die Kollegen in Kühl III, die stramm zu tun haben. Hier treffen sie auf das zweifellos liebste Kind der Stadt, den zweijährigen Noah, dem vor allem der Ruprecht ein wenig unheimlich zu sein scheint. „Noah putzt sich immer schön die Zähne, er geht ganz lieb ins Bett und schon alleine auf die Toilette“, hat der Nikolaus in seinem Buch vermerkt. Das beeindruckt auch Knecht Ruprecht.

An der Haustür verabschieden sich der Nikolaus und sein Assistent winkend von dem kleinen Kerl, der sich auf Opas Arm sicher fühlt. Dann die Panne: Ausgerechnet in diesem Moment verlässt am anderen Ende der Straße, lautstark verabschiedet von den dort wohnenden Kindern, ein Nikolaus das Haus. „Au wei, hoffentlich hat Noah das jetzt nicht gesehen“, hoffen Nikolaus Theo, Kutscher Wolfgang und Ruprecht Joke.